Der große Tambora-Schwindel

drais
Der Erfinder Karl von Drais auf seiner Laufmaschine unterwegs im Mannheimer Schlossgarten. Gemälde von Joseph Paul Karg, 1819. Foto: Wikipedia. Original in den Reiss-Engelhorn-Museen, Mannheim

Kettenreaktion eines Falschzitats zur Laufmaschinen-Erfindung

Wie ZEIT & SPIEGEL dem Tambora-Schwindel auf den Leim gegangen sind: Mit einem falschen Zitat als angeblichem Beweis für ein grosses Pferdesterben in Mannheim 1816/17 nahm das Verhängnis seinen Lauf. Es war laut Prof. Dr. H.-E. Lessings unbestätigter Behauptung erst beim Redigieren der Proceedings of the 11th International Cycling History Conference (Osaka/Japan, 2000) in seinen Text geraten und 2001 erschienen. Es passte aber nur allzu gut zu seiner ansonsten unbegründeten Hypothese, wonach ein Mangel an Pferden infolge einer Klimakatastrophe und Futterknappheit den badischen Forstmeister Karl von Drais 1817 zur Erfindung der Laufmaschine inspiriert haben soll. Auslöser der weltweiten Wettermisere war der Ausbruch des indonesischen Vulkans Tambora zwei Jahre zuvor gewesen. Die Rheinebene war allerdings weniger stark betroffen.

Dennoch hat der US-Autor Gillen D´Arcy Wood diese Schöpfungs-Saga im Epilog seines Buches „Tambora“ einfach ungeprüft übernommen und, ermutigt vom angeblichen Mannheimer Pferdesterben, für Europa den Tod Abertausender Pferde hinzu gedichtet(!); eine übertriebene Hochrechnung auf Grund des Falschzitats. Unter dem Titel „Vulkanwinter 1816“ erschien die deutsche Ausgabe just zum 200. Jahrestag des Tambora-Ausbruchs im April 2015.

Prompt haben sich ZEIT & SPIEGEL (19. März & 4. April 2015) wiederum ungeprüft bei Woods Buch bedient und ihre Tambora-Gedächtnisartikel mit dem angeblichen Zweiradwunder verbrämt. Dieses hat die ZEIT mangels Ortsangabe der Vorlage fälschlicherweise nach Karlsruhe verlegt, und dem SPIEGEL ist gleich gar kein lokaler Bezug geglückt.

Auf meinen Vorhalt hin hat sich Prof. Dr. Lessing währenddessen im April 2015 von dem Falschzitat distanziert, es sogar als Fake bezeichnet – nachdem er es zuvor allerdings 14 Jahre(!) lang nicht korrigiert hatte. Unglücklicherweise war dies der einzige und eben nur scheinbare Beleg seiner Hypothese gewesen.

Bei der International Cycling History Conference (Entraigues-sur-la-Sorgue / Frankreich) im August 2015 dann ein Rückfall: Dort hat er versucht, das nur nachgeplapperte deutsche Presseecho als Bestätigung seiner Hypothese darzustellen. Und dafür war ihm das Falschzitat in dessen Spätwirkung nun plötzlich wieder gut genug. Als sei es allein schon durch den Gang der Wiederholungen zur Glaubwürdigkeit veredelt worden.

Inzwischen ist der Professor vom Fahrradhistoriker Pryor Dodge aufgefordert worden, seine These deutlich als solche zu kennzeichnen und nicht als Fakt auszugeben. Der Amerikaner ist Autor des Buches „The Bicycle“, deutsche Ausgabe unter dem Titel „Faszination Fahrrad“. Das Vorwort stammt von Lessing. In der Neuauflage 2011 hatte er Dodge ein faules Ei ins Nest gelegt und seine Tambora-Zweirad-Hypothese eingeschmuggelt mit der Falschbehauptung, sie sei belegt (S. 6).

Im  „Spektrum der Wissenschaft“ vom April 2017 ist nun die Tambora-Legende Seite 64 – „Auf einen Blick“/Punkt 2 –  eindeutig als These ausgewiesen. Allerdings muss man beim Text schon sehr genau hinschauen, um Lessings lediglich persönliche Schlussfolgerung (S. 65/66) zur Laufmaschinen-Idee wahrzunehmen:„Wie der Erfinder dazu kam, […] wissen wir nicht“. Und : „Drais hatte demnach auf die Hungerkatastrophe reagiert.“

Jost Pietsch, München

Statement von Andrew Ritchie, englischer Fahrradhistoriker und international renommierter Experte (Autor des Standardwerks „King of the Road“), zur Vermutung, ein Vulkanausbruch habe zur Erfindung der Laufmaschine geführt:

„Ich bin wahrlich nicht beunruhigt über die Fehler in Lessings Tambora-Ideen – tatsächlich habe ich sie nie sehr ernstgenommen. Es ist gerademal eine jener historischen Einlassungen, die eben zu spekulativ sind. Man bräuchte eine ganze Menge mehr Belege, um eine plausible Begründung zu erstellen für eine solche Erklärung über den Aufstieg oder Niedergang der Draisine. Man kann nicht einfach ungewisse Geschehnisse nehmen und sie mit anderen Geschehnissen verknüpfen, nur weil man (d.h. Lessing) sich selbst entschlossen hat, sich auf einen winzigen Aspekt der Geschichte zu konzentrieren und versuchen muß, dieses zu begründen.“