Vulkan-Hypothese zur Fahrradfrühgeschichte erweist sich als fundamentaler Irrtum
Von Jost Pietsch, München
Was für eine fantastische Geschichte: Sie besagt, dass der Vorgänger des Fahrrades – die Laufmaschine -1817 erfunden wurde, um die Folgen einer Klimakrise zu überwinden1. Doch, ist das auch wahr? Und zwar war zwei Jahre zuvor der indonesische Vulkan Tambora ausgebrochen und hatte mit seinen Ascheschwaden auf der nördlichen Hemisphäre eine monatelange Wettermisere und damit je nach Region zum Teil größere Ernteschäden verursacht. Die Rheinebene war allerdings weniger stark betroffen2. Diese Zweirad-Genesis klingt nun wie die Legende von der Arche Noah, als einst ein neuartiges Schiff gebaut wurde, um einer Unwetterkatastrophe zu trotzen, die man gemeinhin als Sintflut kennt. Was also sind die Fakten?
Unglücklicherweise gibt es keine Beweise für die Tambora-Hypothese. Nichtsdestotrotz behauptet ihr Verfechter Hans-Erhard Lessing, ein Physik-Professor aus Koblenz, seit über 16 Jahren unbeirrt, die nahe Koinzidenz von Eruption und Erfindung könne kein Zufall sein3. Und er spekuliert, dass zum Ausgleich für die Ernteausfälle die meisten Pferde geschlachtet wurden, um die Menschen zu ernähren. Während andere Pferde einfach verhungert seien. Dabei setzt er voraus, dass für die Getreideeinfuhr auf dem Wasserweg im Juni 1817 genügend Pferde vorhanden waren, um die Schiffe den Rhein hoch zu treideln bis zum Mannheimer Hafen, und er unterstellt danach rätselhafterweise „das Aussterben der Pferde“4, wodurch ein Weitertransport über Land nicht mehr möglich gewesen sein soll. Der Fehlbestand an Pferden habe schließlich den Forstmeister Karl von Drais dazu inspiriert, die Laufmaschine zu erfinden als Ersatz5. Lessing ist noch weiteren Denkfehlern aufgesessen, unter anderem als er den vermeintlichen Verlust von Zugpferden beklagte6, deren Aufgaben für den Transport aber sowieso nie von der recht zierlichen Laufmaschine hätten übernommen werden können.
Das alles hat jedoch den amerikanischen Autor Gillen D´Arcy Wood nicht daran gehindert, die Tambora-Hypothese ungeprüft in seinem Buch „Vulkanwinter 1816“7 zu übernehmen. Er stützt sich dabei auf ein Falschzitat im Bericht von 2001 der 11. Fahrradhistoriker-Konferenz8 in Osaka/Japan, das ein großes Pferdesterben in Mannheim vorgetäuscht hatte:“…so many horses have been slaughtered because of the scarcity of fodder“ („…so viele Pferde waren geschlachtet worden wegen der Knappheit des Futters“). Als Quelle genannt war das Mannheimer Intelligenzblatt Nro. 50, das am 24. Juni 1817 erschienen ist und weder wörtlich noch sinngemäß von solchen Notschlachtungen berichtet hat. Lessing hat das Zitat später als Fake bezeichnet, nachdem er es allerdings 14 Jahre lang nicht korrigiert hatte – eine wissenschaftliche Todsünde! Und schlimmer noch, er hat das Kunststück fertig gebracht, die Aussage des Falschzitas dann als Falschbehauptung9 weiter zu verbreiten. Auch in der Wikipedia-„Geschichte des Fahrrads“ behauptet er forsch, er habe einen Zusammenhang zwischen einem Pferdesterben und der Zweiraderfindung nachgewiesen. Seine dortige Referenz 20 verweist allerdings auf die besagte Fahrradhistoriker-Konferenz und nutzt damit durch die Hintertür das Falschzitat erneut. Leider war es der einzige und eben nur scheinbare Beleg seiner Hypothese gewesen.
Und im April 2015, genau 200 Jahre nach dem Beginn der gewaltigen Eruptionen des Tambora, sind prompt in der Presse mehrere Gedächtnisartikel erschienen verbrämt mit dem angeblich vom Vulkan ausgelösten Zweiradwunder10. Ein ebenso unkritischer Beitrag dazu war vordem schon in der ARD-Sendung „Wissen vor acht“ gelaufen, ohne erkennbare eigene Recherche und einfach unterlegt mit modernen Katastrophen-Filmschnipseln.
Im Übrigen beschreibt Koinzidenz bekanntlich das zufällige Zusammentreffen unterschiedlicher Ereignisse zur gleichen Zeit. Sie allein beweist jedoch überhaupt nichts. Die Tambora-Hypothese hat nur deshalb überlebt, weil sie all die Jahre nie überprüft worden ist und von ihrem Erfinder immer wieder erneut beschworen wurde. Erstaunlicherweise ist von den technischen Institutionen hierzulande keinerlei eigenständige Recherche zu diesem Thema bekannt geworden.
Über Pferde
Es gibt viele Selbstzeugnisse des Mannheimer Erfinders, der unermüdlich für seine Zweirad-Idee geworben hat. Diese war genial einfach, der Fahrer saß auf einem Holm mit Reitsitz zwischen Vorder- und Hinterrad und stieß sich mit den Füßen direkt vom Boden ab. Über einen Mangel an Pferden hat Karl von Drais indes nie geklagt. Er hat sie lediglich in Verbindung mit ihrer Schnelligkeit erwähnt: Die Laufmaschine ist „auf der Ebene“ so schnell „wie ein Pferd im Galopp…Berg ab schneller als ein Pferd in Carrière (im vollen Lauf)“11, und er empfahl die drei- und vierrädrigen Varianten seiner neuen Muskelkraftmaschine zur Mitnahme von Damen:„Diese haben dabei von keinem Pferd vor sich her und von keinem durch solches erregten Staub zu leiden.“
Die Laufmaschine, später nach ihrem Schöpfer auch Draisine genannt, war laut seiner Empfehlung für individuelle Ausflüge gedacht und sollte Pferde besonders im Sommer ersetzen, wenn sie „auf dem Felde gebraucht werden, und die Reiselust am größten ist“12. Der bekannte Maschinenbau-Ingenieur im Königreich Bayern, Georg von Reichenbach, befand in einem Gutachten:„Die Erfindung wird das Reiten auf Pferden, ja auf Eseln, schwerlich aus dem Gebrauche bringen, indessen kann sie leicht manchem nothgedrungenen (gehandicapten) Fußgänger zur Bequemlichkeit, und manchem jungen und alten Kinde zum Vergnügen gereichen“13.
All die Beispiele zeigen, dass die Pferde keinesfalls verschwunden waren. Und Berichte des Mannheimer Intelligenzblattes14 im Frühjahr und Sommer1817 bestätigen es:
- Die Einwohner wurden an die Anordnung erinnert, nicht auf Fußwegen entlang der Chausseen und nicht auf Nebenwegen des Schlossgartens zu reiten.
- Tierarzt Kreiter empfahl sich als „geübt im Kastrieren der Pferde“.
- Es verkehrten täglich privat betriebene Kutschen in die Nachbarstädte und gelegentlich in die Ferne nach München und Frankfurt. Unterwegs benötigten sie viele Pferde zum Wechseln an sogenannten Relais-Stationen.
- Wegen der gestiegenen Futterkosten wurde die “Postwagen-Passagier-Taxe“ um 17 Prozent erhöht, ebenso der Frachttarif für Holztransporte.
- Es gab Ausschreibungen zur Lieferung von Getreide und Futter an das Militär, und zwar auch für durchreisende Truppen wie zum Beispiel ein russisches Dragoner Regiment auf seinem Heimweg von Frankreich.
- Und schließlich fanden zwei Auktionen statt, auf denen der Dung von 450 (in Worten: vierhundert-und-fünfzig) örtlichen Militärpferden versteigert wurde.
Auch dieses widerlegt die Legende eines totalen oder nahezu totalen Pferdesterbens durch Verhungern oder Schlachtung.
Das Wetter
Die Tambora-Hypothese über die frühe Fahrradgeschichte nimmt Bezug auf einen Artikel von Henry und Elizabeth Stommel unter dem Titel „1816: Das Jahr ohne Sommer“15, der zeigt, dass der Vulkanausbruch zu Klimakapriolen wie gelegentlichem, aber außergewöhnlichem Frost und Schnee von Juni bis August 1816 in den Neu-Englandstaaten der USA führte. In gerade mal einem undatierten Gedicht wurde das Jahr verklärt als „Eighteen Hundred und Froze to Death (achtzehnhundert und totgefroren)“. Und Lessing hat dieses Zitat sogleich zur allgemeinen Katastrophen-Parole hochgejubelt16.
Die Maisernte brachte nur halb so viel wie sonst, in manchen Landesteilen sogar noch weniger. „Alle Getreidesorten kamen später zur Reife“, hatten aber „vollere und schwerere Ähren als gewöhnlich“ und führten zu Überschüssen bei Weizen und Roggen17, die ausgereicht hätten, den Mangel andrerorts auszugleichen. Doch Exporte nach Kanada und England sorgten für eine Verknappung des Angebots und einen Preisanstieg zuhause in den USA auf 188 Prozent.
Was hat das mit der Situation im Großherzogtum Baden und – nicht zu vergessen – mit der Erfindung der Laufmaschine zu tun? Übrigens verliert der Stommel-Artikel kein einziges Wort über Pferde. Im Südwesten Deutschlands war das Wetter ebenfalls beeinträchtigt von den Ascheschwaden des Vulkans Tambora. Jedoch gab es in den fünf Monaten von Mai bis September 1816 in der Rheinebene keinen Frost, wie wir aus Peter J. Schneiders „Topographie von Ettlingen“18 wissen; einem Ort unweit der Residenzstadt Karlsruhe und rund 65 Kilometer entfernt von Mannheim.
Das Wetter tendierte zu schnellen und extremen Wechseln. Die Regentage nahmen gegenüber dem langjährigen Mittel um 35 Prozent zu. Die Niederschlagsmenge blieb aber innerhalb der Bandbreite der Dekade. Die Zahl der Sonnentage sank um 60 Prozent, dennoch lag die Jahresdurchschnitts-Temperatur mit 7,5o Réaumur (9,37o Celsius) im Bereich der anderen Jahre. Am schlimmsten jedoch waren 13 Tage mit Hagel (+117 Prozent) und 22 Tage mit Stürmen (+83 Prozent). Die gemischten Tage mit Sonne und Wolken erbrachten ein Plus von 11 Prozent und machten drei Viertel des Jahres aus.
In kargen Lagen wie Schwarzwald und Odenwald sank die Getreideernte um bis zu 50 Prozent. Auch in den Nachbarländern waren die höher gelegenen Regionen am stärksten betroffen, wie Schwäbische Alb, Eifel, Hunsrück und ganz besonders die Schweiz. Überall dort war zuweilen manches Elend zu verzeichnen. Doch allen Wehklagen zum Trotz gab es in Baden keine Hungertoten zu vermelden. „Die Bezeichnung <Jahr ohne Sommer> ist, auch wenn sie Karriere gemacht hat, eine Übertreibung“19. Am Beispiel Württembergs zeigte sich im Überblick dass nur „marginalisierte Bevölkerungsteile 1816/18 tatsächlich Hunger litten und größere Teile der Bevölkerung von ihm unmittelbar bedroht waren“20. Lessing spricht von einem kompletten Ernteausfall21 im Großherzogtum Baden für 1816, ohne dies auch nur irgendwie zu belegen(!). Dagegen beziffert Barbara Brugger in „Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons“ den damaligen Rückgang des Ertrags auf nur 16 Prozent.
Künstliche Teuerung
Dies war jedoch genug, um Spekulation und Wucher anzuheizen gerade auch grenzüberschreitend. Als große Spekulantin tat sich z.B. Marie Leopoldine von Österreich-Este hervor, die Witwe des bayrischen Kurfürsten Karl Theodor. Bei Nördlingen unterhielt sie ein eigenes Lagerhaus, die Abwicklung ihrer Geschäfte besorgte ein Bankier22. Das Horten von Getreide und lukrative Schiebergeschäfte ins Ausland beeinträchtigten die interne Versorgung. Alles zusammen trieb die Preise auf die drei- bis fünffache Höhe, was sich die armen Leute bald nicht mehr leisten konnten. Währenddessen hatten die nicht so armen Leute Gelegenheit, einigen Luxus zu genießen: Champagner aus Frankreich, Austern aus England, Kaviar aus Russland, Käse aus Holland und der Schweiz, Salami aus Italien und Rum aus Jamaika23. Das bedeutet, der Güterverkehr war keinesfalls unterbrochen. Es gab immer noch genügend Pferde für Transportaufgaben.
Die Regierung des Großherzogtums Baden reagierte auf die Lebensmittelverknappung und die gestiegenen Preise zur Jahreswende 1816/17 mit der Verdopplung des Ausfuhrzolls auf Getreide24 Der Export von Kartoffeln wurde gänzlich untersagt. Ihr Erwerb im Inland „zum Zwecke des Branntweinbrennens“ war künftig „bei Confiscationsstrafe verboten“, d.h. wer erwischt wurde, musste alles abliefern. Die erhöhten Zolleinnahmen waren vorgesehen, um die Bevölkerung zu unterstützen in Gemeinden mit Ernteschäden. Desweiteren kam es zu viel Hilfsbereitschaft durch Spenden und Wohltätigkeitsvereine und zur Errichtung von Suppenküchen für die Armen. „Die Not der Jahre 1816 und 1817 [war] eher ein Problem der gerechten Verteilung vorhandener Ressourcen als ein witterungsbedingter Schicksalsschlag“ (Barbara Brugger)25.
Ein folgenschwerer Irrtum
Als Ausgangslage für seine Tambora-Hypothese zur Zweiraderfindung dient Lessing eine amtliche Bekanntmachung im – wie erwähnt – Mannheimer Intelligenzblatt vom 24. Juni 1817 . Übrigens war die Laufmaschine da schon erfunden. Karl von Drais hatte damit zwölf Tage zuvor seine erste bekannte Ausfahrt unternommen, und zwar schon vor dem Höhepunkt der Getreidespekulation. Die Zeitung kündigt Maßnahmen an gegen die Verknappung und Verteuerung. Unter anderem werden regulierte Preise festgelegt und Verbrauchsmengen für Mensch und Pferd vorgegeben, um darüber hinaus reichende Bestände dem Verkauf zuführen zu können.
Anlaß war „die allerwärts eingetretene Getreidesperre“, d.h. ein Exportverbot unter anderem der Nachbarländer Hessen und Württemberg, durch das „die gewohnten und natürlichen Verkehrsverbindungen gänzlich zerrissen sind, und nicht zu erwarten steht, dass sich…eine regelmäßige Cirkulation des [bereits] vorräthigen Getreides im Innern des Landes bilde“. Es ging also nicht um die Weiterverteilung einer neuen Getreidelieferung vom Mannheimer Hafen ins Landesinnere, wie vom Erfinder der Hypothese hinzugedichtet26. „Ein Exportverbot für Getreide bedeutete, dass der Transithandel und der Absatz von regional immer noch verfügbaren Produktionsüberschüssen zum Erliegen kamen“27. D.h. die Pferde hatten weniger Beschäftigung, und es mußte deshalb auch gar kein Ersatz erfunden werden. Dass hier der Pferdebestand dem geringeren Bedarf angepasst wurde, erscheint nicht weiter verwunderlich.
Als Beispiel für die vermeintliche Notwendigkeit eines Pferdeersatzes beruft sich der Schöpfer der Tambora-Hypothese auf den Karlsruher Hoftierarzt Georg Friederich Tscheulin. Dieser berichtet von einem Nervenfieber, das die Pferde im Frühjahr 1817 befallen habe. Die Symptome erinnern an jene der Gastritis. Als Hauptursache nennt er die Überfütterung der entwöhnten Tiere mit dem wieder reichlich und hochwertig vorhandenen Klee und Gras. Tscheulin erklärt, er habe „wohl über hundert Pferde zu behandeln gehabt. Allein es ist mir nicht mehr als ein einziges daran gestorben“. Häufigere Todesfälle andrerorts schreibt er dem Wirken von Pfuschern und Scharlatanen zu28.
Entscheidend aber in Bezug auf die Erfindung der Laufmaschine ist, dass er den häufigen Ausbruch der Pferdekrankheit erst für Mai und Juni 1817 angibt. Und da war die Laufmaschine schon im Bau, im Test und schließlich in Betrieb. Dem muß sogar ein Versuchsmodell voraus gegangen sein zur Festlegung z. B. der Rahmenhöhe, Sitzposition und Lenkgeometrie. Auch die Idee für ein Balancierbrett zum Aufstützen der Unterarme beim Lenken ging auf praktische Erkenntnisse zurück. Als angeblicher Anreiz für die Erfindung kam die Krankheit also zu spät und war sowieso nicht so tödlich wie in der Tambora-Hypothese unterstellt. Diese bemüht überdies ferne Schauergeschichten über Hungerexzesse, die durchaus einen wahren Kern aber nichts mit Mannheim zu tun hatten. Dabei haben schon Henry und Elizabeth Stommel vor einer künstlichen Dramatisierung durch die spätere Geschichtsschreibung gewarnt.
Dessen ungeachtet bescheinigt sich Lessing treuherzig in einem Eigenattest neuerdings die Richtigkeit seiner falschen These29. Für die fehlenden Beweise macht er eine einstige Pressezensur verantwortlich. Dabei war zumindest über Teuerung, Wucher und Spekulation berichtet worden, vor allem aber auch über einen weiterhin umfangreichen Pferdeeinsatz. Um doch noch einen Hinweis auf gelegentlichen Futter- und Pferdemangel erwähnen zu können, zitiert der Professor aus einem Sonderdruck30 von 1816 (nicht 1814!) des Freiherrn von Drais, in dem dieser für einen drei Jahre zuvor erfundenen Muskelkraftwagen wirbt. In der Aufzählung der Vorzüge folgt unter Punkt 7:„In Kriegszeiten, wo die Pferde und ihr Futter oft selten werden, könnte ein…solcher Wagen…wichtig seyn.“ Dies ist eindeutig ohne einen damals aktuellen Bezug, ganz im Gegensatz zu Punkt 8:„In der Sommerzeit, wo die Landpferde weit mehr auf dem Felde oder zu anderen Unternehmungen gebraucht werden, läuft so ein Wägelchen gerade am leichtesten auf den meisten Wegen.“ D. h. der Erfinder sieht keinen Pferdemangel, sondern einen Einsatz der Tiere auf dem Acker und anderswo.
Es ist überhaupt ein Grundfehler des Professors, anzunehmen, ein Pferdemangel – zumal ein unbewiesener – könne quasi zwangsläufig eine so revolutionäre Idee wie das einspurige Muskelkraft-Vehikel hervorgebracht haben. Eine weitere Tragik der Tambora-Hypothese besteht darin, dass ihr Schöpfer nicht nur die Begriffe „Getreidesperre“ und „Verkehrsverbindungen“, sondern den ganzen Bekanntmachungstext falsch verstanden und diesen sogar einem frei erfundenen Stadtdirektor31 zugeschrieben hat. Getreidesperre – also Getreide-Exportverbot – hat er als „corn shortage“32 („Getreideknappheit“) übersetzt und so in seinem Konferenzbericht von 2001 den amtlichen Eingriff gegen die Spekulation unterschlagen. Bei den Verkehrsverbindungen hat er die für damals falsche Bedeutung im Sinne von Straßenverkehr vermutet. Und weil es hieß, dass diese zerrissen seien, hat er einfach ein Fehlen der Zugtiere unterstellt und als Grund dafür sich ein großes Pferdesterben zusammengereimt33. Ein fundamentaler Irrtum! Damit ist die Basis seiner Argumentation weggebrochen, und die ganze Tambora-Hypothese hängt vollkommen in der Luft. Und zwar bezog sich das Wort Verkehrsverbindung einst allein auf den Handelsverkehr34 und hatte mit dem Geschehen auf der Straße nichts zu tun.
Das behauptete große Pferdesterben wiederum soll – wie gesagt – die Idee zur Erfindung der Laufmaschine geliefert haben. Zeitgenossen betrachteten jedoch die Draisine keineswegs als Erlösung von irgendeinem Problem, sondern allenfalls als sportliche Kuriosität, die „viel Gespötte veranlasste“35. Bei der Beurteilung der Zweirad-Genesis darf man auch nicht wie geschehen in den Fehler verfallen und aus heutiger Sicht vom bereits erwiesenen Erfolg ausgehen. Zum Erfinden gehört bekanntlich eine zündende Idee. Die kann man nicht einfach nachträglich nach Gutdünken an den Haaren herbeiziehen. Der Drais-Biograph Hermann Ebeling hat den Sachverhalt sehr gut gekennzeichnet mit seinem Hinweis auf den „Genieblitz, von dem Drais getroffen wurde“ 36.
Was der Freiherr konzipiert hat, war zunächst mal eine äußerst schrullige Gehhilfe mit Sitzgelegenheit in Form eines schmalen, lenkbaren Gestells auf zwei Rädern – all das durchaus in der Hoffnung auf ein besseres Fortkommen. Diese Konstruktion sollte den Beinen die Last des Körpergewichts abnehmen und ihnen ermöglichen, ihre volle Kraft allein zur Vorwärtsbewegung einzusetzen. Dabei konnte der begnadete Tüftler noch gar nicht wissen, inwieweit die Sache funktioniert. Die Balancierfähigkeit der Maschine war nämlich nicht vorhersehbar! Sie ist eine Entdeckung aus der Testphase. Und ein Glücksfall. Und eben das Glück des Tüchtigen. Ein Pferd mußte ihm dazu nicht Pate stehen, und sei es ein noch so totes. Auch hat es hierfür eines Vulkanausbruchs nicht bedurft. Der eigenwillige Karl von Drais hat der Menschheit mit seinem Vorläufer des Fahrrades eine überaus segensreiche Erfindung beschert. Da war es nicht nötig, sein Renommee professoral noch übertrumpfen zu wollen und ihn zum vermeintlichen Nothelfer einer Klimakrise hinzustellen – zumal bis zur absehbar guten Ernte im Sommer 1817 gerade mal ein einziges Exemplar der neuen Wundermaschine fertig gestellt werden konnte.
Referenzen
1 11th International Cycling History Conference, Osaka/Japan, 2000,
(Cycle History 11), Proceedings, 2001, S. 32/33
2 Joseph von Hazzi „Betrachtungen über Theuerung und Noth der Vergangenheit und Gegenwart. Geschrieben im Herbste 1817“, München, 1818, S. 101/102
3 Cycle History 22, Paris, 2011, S. 182
4 Hans-Erhard Lessing „Zwei Räder statt vier Hufe”, Karlsruhe, 2010, S. 49/50
5 Cycle History 11, S. 33
6 Cycle History 22, Paris, 2011, S. 182
7 Gillen D´Arcy Wood, „Vulkanwinter 1816”, Darmstadt, 2015, S. 276 & 327
8 Cycle History 11, S. 33
9 The Boneshaker No. 198, summer 2015, S. 7; Wikipedia „Geschichte des Fahrrads”, 13.August 2016, die dortige Referenz 20 entspricht Cycle History 11 mit dem nachgewiesenen Falschzitat, S. 32/33
10 DIE ZEIT Nr. 12/ 19. März 2015, S. 21 „Alle redeten vom Wetter“;
DER SPIEGEL Nr. 15/4. April 2015, S. 116/117 „Planet Asche“;
FAZ Nr. 80/7. April 2015, S. 9 „Die Eruption, die Europa zittern ließ“
(alle drei Artikel verbrämt mit dem angeblichen Zweiradwunder, letzterer sogar vom Erfinder der Tambora-Hypothese selbst);
Süddeutsche Zeitung Nr. 83/11./12. April 2015, S. 34/35 „Sommer ohne Sonne“
11 Michael Rauck „Karl Freiherr Drais von Sauerbronn”, Wiesbaden, 1983 (Rauck), S. 648, 651
12 Rauck, S. 316
13 Rauck, S. 150
14 Mannheimer Intelligenzblatt, 1817, ohne Paginierung
21. März, 13. Mai, 16. Mai, 21. Mai, 26. August, 6. Mai, 6. Juni, 21. Jun „Postwagen-Passagier-Taxe“ in Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungs-Blatt, 17. Juni 1817, S. 62
15 Henry und Elizabeth Stommel „1816: Das Jahr ohne Sommer“, Spektrum der Wissenschaft, Januar 1983, S. 96-103 (Original: Scientific American, Juni 1979, S.134-140)
16 Wolfgang Behringer „Tambora und das Jahr ohne Sommer“, München, 2015, S. 13 (Behringer); Hans-Erhard Lessing „Automobilität“, Leipzig, 2003, S. 138 (Lessing)
17 siehe 15
18 Peter J. Schneider „Topographie von Ettlingen“, Karlsruhe, 1818, (Reprint 1992),
S .300-316
19 Behringer, S. 14
20 Clemens Zimmermann „Hunger als administrative Herausforderung, Jahrbuch der europäischen Verwaltungsgeschichte“, Bd. 7, Baden-Baden, 1995, S. 21 (Jahrbuch 1995)
21 Cycle History 22, S. 182/183; Wikipedia „Geschichte des Fahrrads“, 13. August 2016; Katalog 1.1 der Ausstellung „Baden und Württemberg im Zeitalter Napoleons“ (Katalog B & W), Stuttgart, 1987, S. 477
22 Behringer, S. 192, zitiert nach Sylvia Krauss-Meyl „Das <Enfant terrible> des Königshauses“, Regensburg, 1997, S. 264/65
23 Mannheimer Intelligenzblatt, 1817, 14. Februar, 10. Januar, 18. Februar, 6. Mai
24 Großherzoglich-Badisches Staats- und Regierungs-Blatt, 15. November 1816, S. 135, und 21. Januar 1817, S. 3/4
25 Katalog B & W, S. 477
26 Lessing, S. 138; Cycle History 11, S. 33
27 Jahrbuch 1995, S. 23
28 Georg Friederich Tscheulin „Beschreibung und Heilung des Nervenfiebers, welches im Frühjahr und Sommer 1817 unter den Pferden hier und in der Gegend geherrscht hat“, Karlsruhe, 1819, S. 9 & 16
29 Mannheimer Morgen, 30. April 2016, Wochenendbeilage,
S. 10, „Das Urfahrrad“
30 Rauck, S. 643-646, zitiert nach „Wörtlicher Auszug aus dem Neuen Magazin aller neuen Erfindungen, Entdeckungen und Verbesserungen…Dritter Band. Drittes Stück“, Mannheim, 1816
31 „Die apokalyptischen Draisinenreiter“, FAZ Nr. 99/ 29. April 2010, S. 9; Bekanntmachung der Großherzoglich-Badischen Immediat=Commission in Frucht-Theuerungs-Angelegenheiten vom 18. Juni 1817
32 Cycle History 11, S. 33; Jakob & Wilhelm Grimm „Deutsches Wörterbuch: GETREIDESPERRE”, Leipzig, 1911
33 Lessing, S. 138
34 Wolfgang Pfeifer, Herausgeber, „Etymologisches Wörterbuch des Deutschen: VERKEHR”, 2. Auflage, Berlin, 1993, S. 1504
35 Karl August Varnhagen von Ense, preußischer Gesandter im Großherzogtum Baden, „Denkwürdigkeiten des eignen Lebens“, Bd.3, Frankfurt/M., 1987, S. 487/488
36 Hermann Ebeling „Der Freiherr von Drais – Ein Erfinderschicksal im Biedermeier“, Karlsruhe, 1985, S. 65